Predigt zum 2. Sonntag nach Trinitatis (26.6.2022):
Eine Porzellanfigur.
Vielleicht eine Handfläche groß.
Sie hat schwarz-blau gestreifte Kleidung an,
darüber einen leuchtend orange-farbener Mantel.
Die Füße stecken sind blauen Sandalen.
Die Figur schaut nach oben.
Sie sieht mich direkt an.
Freundlich, neugierig.
Sie hat dunkle, lockige Haare.
Abstehende Ohren, große Füße –
und einen wachen Blick.
Ich nenne sie Jona.
Wie der Jona aus der Bibel.
Gefunden habe ich die Figur letzte Woche in der Stiftung Neuerkerode.
Sie stand dort zwischen ganz vielen anderen Porzellanfiguren.
Sie wurde in der Kunstwerkstatt Villa Luise hergestellt.
Dort arbeiten behinderte Künstlerinnen und Künstler,
Bürgerinnen und Bürger von Neuerkerode.
Auch als ich letzte Woche in der Werkstatt war,
haben dort Menschen an Kunstwerken gearbeitet.
Manche saßen an kleinen, tönernen Engeln.
Neuerkerode ist ein besonderer Ort.
Inmitten in Grün.
Ein Dorf für sich.
Ruhig und laut zugleich.
Er hat ein ganz eigenes Tempo.
Einer fragt:
„Was machst du hier?“
„Ich suche Kunstwerke aus.“
„Wofür?“
„Für eine Kunstausstellung – und für mein Büro.“
„Was ist ein Büro?“
„Da arbeite ich, mein Schreibtisch steht dort.
Mein Büro soll noch etwas schöner werden.
Deswegen möchte ich eure Kunst kaufen.“
„Nimmst du einen Engel mit?“
„Nein, ich nehme diesen hier mit: Jona.“
„Warum denn keinen Engel?“
„Ich brauche gerade keinen Engel.
Aber ich brauche einen Jona.“
Als ich nach Hause fahre,
stelle ich mir vor, wie es wäre:
Wenn ich Jona nicht nur mitnehme,
sondern in die belebten Orte Braunschweigs bringe.
Die handflächengroße Figur mitten hinein in die Stadt:
Auf den Kohlmarkt, auf den Bohlweg, in den Inselwallpark.
So, wie es der Prophet Jona aus der Bibel gemacht hat,
der in die Stadt nach Ninive reiste:
„Gott sprach zu Jona:
Geh nach Ninive!
In die große Stadt!
Rede ihr ins Gewissen.
Ich sage dir, was du verkünden sollst!
Da ging Jona nach Ninive.
Ninive war aber eine ungeheuer große Stadt.
Drei Tage brauchte man, um sie zu durchwandern.“
Jona, der Prophet:
Ich glaube, dass ist eine der bekanntesten biblischen Figuren.
Denn die Geschichte von Jona ist sehr faszinierend.
Sie handelt von einem störrischen Propheten,
der Gottes Auftrag nicht erfüllen wollte
und deswegen sogar von einem Wal verschluckt wurde.
Gott schickte Jona in die Metropole Ninive.
Das war die Hauptstadt von Assyrien.
Assyrien war eine der vielen Großmächte,
die das Land Israel, das israelitische Volk, erobert hatten.
Sie hatten ihre eigenen Gottheiten und ihren eigenen Glauben.
Ninive steht in der Geschichte symbolisch für die vielen feindlichen Völker Israels.
Also nicht nur für Assyrien, sondern eben auch Babylonien, Persien und Griechenland.
Über die Jahre haben viele Großmächte Israel angegriffen und erobert.
Vielleicht war das der Grund, warum Jona nicht nach Ninive wollte.
Er wollte nicht, dass Gott den Menschen dort wohlgesinnt ist.
Schließlich würde das bedeuten, dass sie weiter angreifen könnten.
Also ging Jona dem aus dem Weg.
Er versuchte zu fliehen, nur weg von Ninive.
Weg vom Feind, weg von der Gefahr!
Nur: Gott hatte andere Pläne.
Und so musste Jona doch nach Ninive.
Jona in dieser riesigen Stadt.
Drei Tagesreisen groß.
Ich versuche es mir auszumalen.
Wie lange dauert es durch Braunschweig zu laufen?
Drei Stunden vielleicht.
Die größte Stadt, in der ich jemals war, war Shanghai.
In Shanghai leben etwa 25 Millionen Menschen,
über 100 Kilometer sind die Stadtgrenzen voneinander entfernt.
Es ist eine beeindruckende Stadt.
Wolkenkratzer, Restaurants, Märkte, Tempel.
Sehr reiche und sehr arme Viertel,
viel Industrie, Technik, aber auch Kunst.
Ja, dass könnten wohl etwa drei Tage sein.
Ninive, eine Stadt, so groß wie Shanghai.
Jona geht also nach Ninive.
Und er sagt: „In 40 Tagen wird Gott euch zerstören.“
Und was passiert?
Die Menschen bereuen ihre Taten.
Sie bekennen sich zu dem einen Gott.
Der König steigt vom Thron, legt den Mantel ab.
Er setzt sich in den Staub, in den Dreck.
Er ruft ein großes Fasten aus.
Es gibt kein Essen mehr.
Selbst Wasser gibt es nicht.
Alle machen mit.
Und: Es hilft.
„Gott sah, was die Leute taten.
Sie kehrten um von ihrem bösen Weg.
Da tat es Gott leid, dass er sie vernichten wollte.
Er beschloss, seine Drohung nicht wahr zu machen.“
Die Zerstörung wird abgewendet.
Die Menschen werden gerettet.
Sehr zum Ärger von Jona – ohne Frage.
Aber Gott ist manchmal größer,
größer auch als unsere Vernunft,
als unsere Konflikte und Kriege.
Sehr oft bin auch ich Jona.
Will ich denn, dass Gott den Bösen vergibt?
Wie ist es mit Putin oder Kyrill in Moskau?
Oder mit den Taliban in Kabul?
Oder Xi Jinping in Peking?
Gut, dass Gott größer ist als ich.
Er hat auch die Menschen in den Ländern im Blick,
die selbst unter der Herrschaft leiden.
Ganz am Ende der Geschichte fragt Gott Jona:
„Jetzt frage ich dich: Sollte Ninive mir nicht leidtun.
Diese große Stadt: Mit vielen Menschen und vielen Tieren.
Sie alle wissen nicht, was links und was rechts ist.
Sollte es mir da nicht leidtun?“
Wenn ich die Porzellanfigur aus Neuerkerode mit nehme,
der kleine Jona aus der Kunstwerkstatt Villa Luise –
Wenn sie mitten in Braunschweig stehen würde:
Auf den Kohlmarkt, auf den Bohlweg, in den Inselwallpark:
Was würde sie wohl sehen und erleben?
Ich glaube, dem Porzellan-Jona müsste Braunschweig so groß vorkommen,
so groß wie dem Propheten Jona die ganze Metropole Ninive.
Schon allein der Weg von der Andreaskirche zum Inselwallpark wäre sehr lang,
selbst mit einem orange-farbenem Mantel und großen Füßen.
Was würde der Porzellan-Jona sehen und erleben?
Was sind seine Orte der Gefahr, Orte der Angst?
Wo möchte er auf keinen Fall hin?
Wie können wir das ändern?
Wollen wir das ändern?
Wir sind eingeladen, von Gott selbst,
mitzuwirken an dieser seiner Stadt.
Er lädt uns alle dazu ein, egal wer wir sind,
selbst mit abstehenden Ohren und großen Füßen.
Wir sind seine Mitbürgerinnen und Mitbürger,
Mitbewohnerinnen und Mitbewohner.
Wir bauen zusammen an Gottes Haus,
mit Hilfe der Heiligen Geistkraft,
mit Jesus Christus als Fundament.
Bald wird Jona, die Porzellanfigur aus Neuerkerode,
neben vielen anderen Figuren im Café Kreuzgang stehen,
dass ebenfalls von der Stiftung Neuerkerode betrieben wird
Wer mag, kann dorthin kommen und ihn besuchen.
Man erkennt ihn an dem leuchtenden Mantel,
dem wachen Blick, den abstehenden Ohren.
Jona wird den Geschichten lauschen, die man sich dort erzählt.
Vielleicht wird auch er dann etwas erzählen,
von seinem Blick auf die Stadt,
wo er Gott darin gefunden hat.
Man muss nur still sein.
Und ihm zuhören.