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Zu Beginn steht der Segen

Lese-Predigt zu Jubilate (8.5.2022):

I. Zu Beginn

Ganz zu Beginn machte Gott sich einen Plan.
Er erdachte sich, wie es denn sein soll, mit der Welt.
In seinem Kopf legte er sich alles genau zurecht:
wie er Himmel und Erde erschaffen wollte.

Ganz zu Beginn steht wohl erst einmal ein Wort,
dachte sich Gott, und noch vor dem Wort ein Zeichen.
Ein Buchstabe. Die Welt beginnt mit einem Buchstaben.
Aber nicht mit dem A, mit dem hebräischen Alef.
Denn Alef steht für einer oder einzig.
Und das steht für ihn, für Gott.

Also dann doch mit dem B, dem hebräischen Beth,
dem zweiten Buchstaben im Alphabet,
Denn das Beth ist wie ein Haus.
Es ist wie die Schöpfung selbst.
Von hinten, oben und unten begrenzt,
Nach vorn aber offen, zur Zukunft hin.
Im Beth ist der Segen schon enthalten.
Denn auch der hebräische Wort Segen, Baruch,
beginnt mit einem Beth.

Ganz zu Beginn steht also der Segen.
Und mit diesen Segen erschuf Gott die Welt,
er erschuf Himmel und Erde.
„Vorher gab es nichts oder fast nichts,
danach gibt es nichts Besonderes,
ein paar Zeichen, die aber ausreichen,
damit es ein Oben und ein Unten gibt,
einen Anfang und ein Ende,
eine Rechte und eine Linke,
eine Vorderseite und eine Rückseite“
[Georg Perec: Träumen von Räumen]

II. Im Chaos

Ganz zu Beginn erschuf Gott die Welt.
Die Schöpfung begann mit Buchstaben, mit Wörtern,
mit Leerstellen und schließlich mit einem Segen.
Dieser Segen brachte die Ordnung in die Welt.

Denn es war ja so: Zu Beginn herrschte Chaos.
Es gab noch keine Gesetze, keine Regeln.
Keine Schwerkraft, keine Erhaltungssätze,
auch keine Quantentheorie.
Es gab nicht einmal Raum noch Zeit.
Es gab wirklich gar nichts. Nur Gott.
Es war ein völliges Tohuwabohu.
Also erschuf Gott die Ordnung.
Und damit er sich das Chaos genau ansehen konnte,
erschuf er mit seinen Wörtern gleich noch das Licht.
Und Gott sprach: Es werde Licht.
Und es ward Licht. (Gen 1,3)
Dann unterschied Gott zwischen Licht und Finsternis,
er erschuf also gleich noch die Gegensätze,
das Helle und das Dunkle, das Leichte und das Schwere.
Und er erschuf die Zeit: Tag und Nacht, Morgen und Abend.
Stunden, Tage, Wochen, Monate.

So brachte er schon einmal ein wenig Ordnung in das Chaos.
Denn er konnte nun unterscheiden und sortieren.

Ich stelle es mir so vor,
dass Gott ganz zu Beginn erst einmal
die ganze Kiste mit Legosteinen auskippte.
Rote, grüne, blaue, gelbe Steine.
Steine mit vier oder mit sechs oder mit acht Noppen,
Gott sortierte sie nach Farben, nach Größen, nach Formen,
um sein Haus, seine Schöpfung, daraus zu bauen.
Und er nahm sich dafür Zeit.

III. In sieben Tagen

Denn: So eine Schöpfung baut man nicht in einem Tag.
Dafür braucht man schon eine gewisse Zeit.
Eine klare, eine abgegrenzte Zeit.
Wie eine Woche, beispielsweise.

In dieser Woche erschuf Gott die Welt.
Am ersten Tag begann er mit den Wörtern.
Und mit den Wörtern erschuf er das Licht.
Und mit dem Licht zugleich auch die Zeit.
Am zweiten Tag erschuf er den Raum.
Er erschuf ein oben und ein unten.
Er erschuf den Himmel und die Erde.
Am dritten Tag folgten Meere und Kontinente.
Die Kontinente füllte er mit Bäumen, Gräsern,
mit Sträuchern und mit Samen, mit allerlei Blumen.
Es wuchsen die ersten Früchte.
Kirschen, Granatäpfel, Feigen, Datteln.
So ein Segen!

Am vierten Tag erschuf Gott die Gestirne,
er machte den Mond und die Sonne,
er dachte sich Sternbilder aus.
Die Gestirne dienten nicht nur der Ordnung,
sie dienten auch der Orientierung,
bei Tag und bei Nacht wiesen sie den Weg.

Am fünften Tag fing Gott mit den Lebewesen an.
Zuerst die Meeres- und Himmelsbewohner.
Das waren Fische, Wale, Delphine, Pinguine.
Seeungeheuer wie der Leviathan.
Selbst so kleine Lebewesen wie Seesterne,
Igelfische, Seepferdchen oder Anemonen.
Dann kamen dazu die Vögel.
Adler, Falken, Eulen,
Schwalben, Spatzen, Tauben.
Und natürlich Kolibris.

Schließlich kam der sechste Tag.
Das war der Höhepunkt des Schöpfungswerks.
Gott erschuf die Erdenbewohner.
Zuerst die ganzen Tiere.
Rehe, Löwen, Schafe, Katzen.
Kühe, Ziegen, Elefanten und Einhörner.
Aber auch die ganzen Insekten.
Würmer, Mücken, Motten, Lurche.

Gottes Schöpfung war vielfältig und bunt,
überall krabbelte, hüpfte und wimmelte es.
Gott segnete das ganze Leben.
Denn er fand es gut.

IV. Was fehlt?

Gott hatte aus dem Nichts die Welt geschaffen,
mit seinen Wörtern hatte er das Chaos geordnet.
Er hatte Raum und Zeit geschaffen, die Gesetze,
die Natur mit allen ihren Lebewesen.

Doch etwas fehlte ihm.
Es fehlte ihm ein Lebewesen, dass ihm gleich war.
Es sollte ordnen, sortieren und neues kreieren.
Es sollte Segen sein und Segen bringen.
Also erschuf Gott den Menschen:

Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde,
zum Bilde Gottes schuf er ihn;
und schuf sie als Mann und Frau.
Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen:
Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde
und machet sie euch untertan
und herrschet über die Fische im Meer
und über die Vögel unter dem Himmel
und über alles Getier, das auf Erden kriecht. (Gen 1,26-28)

Gott erschuf den Menschen als sein Abbild,
befähigt mit der Gabe der Wörter,
mit der Gabe des Sprechens.
Der Mensch ist Ebenbild Gottes:
wesensähnlich, anverwandt.
Wir sind Gottes Kinder.

Und zwar:
in aller Vielfalt, in aller Diversität,
in allem Gemeinsamen und allem Unterschiedlichen,
in allem Weiblichen und allem Männlichen und allem Dazwischen.
In dieser Vielfalt von gleicher Würde,
in gleichem Wert, unantastbar.

Und wie Gott mit uns in Beziehung ist,
so sind auch wir in Beziehung erschaffen.
Der Mensch kam nicht allein in die Welt,
sondern paarweise, zu Zweit,
um Segen zu sein und zu werden.

Gott gibt einen Auftrag mit:
Seine Schöpfung zu füllen und zu bewahren.

Ganz zu Beginn:
Noch im Einklang mit der Welt,
im Einklang mit der Natur.
Vegetarisch lebend:
Sehet da, ich habe euch gegeben alle Pflanzen,
die Samen bringen, auf der ganzen Erde,
und alle Bäume mit Früchten, die Samen bringen,
zu eurer Speise. (Gen 1,29)

Und die Menschen?
Sie kamen diesen Auftrag nach.
Sie füllten Gottes Schöpfung.
Sie versuchten sich als Segen.
Sie lebten Jahrhunderte und Jahrtausende.
Sie sortierten, ordneten und entwickelten.
Sie forschten und sie erdachten.
Sie ließen Neues entstehen,
in ihren Köpfen mit ihren Wörtern.
Sie fingen an, Fragen zu stellen.
Und manche zu beantworten.
Wie ist die Welt entstanden?
Wer hat sie erschaffen?
Was ist unsere Aufgabe darin?

Die Menschen schrieben mit Worten auf,
wie sie die Welt und ihre Aufgabe verstanden.
Sie hielten die Schöpfung in Texten fest,
sie ordneten die Welt so, wie sie sie erlebten.
In Raum und Zeit, in Tagen und Nächten,
in gestern, heute und morgen,
in oben, unten, vorn und hinten,
vielfältig, lebendig und bunt.
Sie beschrieben ihre Beziehung zu Gott,
ihre Dankbarkeit zu ihrem Schöpfer,
der sie damals gesegnet hatte und
bis heute segnet als seine Kinder.

Sie gaben ihre Gedanken weiter.
Von Generationen zu Generationen,
in Erzählungen und Überlieferungen,
in biblischen Texten.

Bis heute stellen wir uns diese Fragen,
nach dem Ursprung der Welt
und nach unserem Sinn darin.
Wir finden sie in den alten Texten,
aber auch in neuen Erkenntnissen.

Doch noch immer gilt:
Diese Schöpfung wurde uns anvertraut,
uns zum Segen, füreinander.

V. Zuletzt

Zuletzt, am siebten Tag, ruhte Gott.
Er ruhte sich aus,
denn er hatte viel geschaffen.
Aus seinen Wörtern entstand die Welt:
und darin lag sein ganzer Segen:

Und so vollendete Gott am siebenten Tage seine Werke,
die er machte, und ruhte am siebenten Tage
von allen seinen Werken, die er gemacht hatte.
Und Gott segnete den siebenten Tag
und heiligte ihn, weil er an ihm ruhte von allen seinen Werken,
die Gott geschaffen und gemacht hatte. (Gen 2,2-3)

Ganz zum Schluss liegt die Ruhe, die Pause.
Ganz zum Schluss liegt wieder ein Segen.
Der Segen des Nichtstuns: Nichts blieb zu tun.
Stattdessen genoss Gott die Ruhe.
Er betrachtete seine Werke und war zufrieden.

Der siebte Tag ist ein Tag zum Durchatmen.
Ein Tag Atempause, ein Tag Besinnung.
Auch der gehört in die Ordnung der Welt.
Da gibt es nichts mehr zu tun.
Es wird keine Wäsche aufgehangen,
und kein Auto geputzt.
Es wird sich nicht mehr als nötig bewegt,
es wird auch nicht gearbeitet.

Man könnte den Tag im Bett verbringen,
man könnte im Schlafanzug Netflix schauen.
Oder man könnte Zeit mit seinen Kindern verbringen,
dann spielt man Qwirkl, Malefiz oder Lego.
Vielleicht liest man auch endlich das Buch,
für das man nie die Zeit unter der Woche fand.

Freie Tage sind heilige Tage.
Auszeit. Ausschalten. Ausatmen.
Tage, um sich auf sich zu konzentrieren,
um sich auf Gott zu konzentrieren,
und dankbar zu sein, sich zu freuen.
Sich darüber zu freuen, wie gut alles ist.
Wie gut Gott alles geschaffen hat.

An freien Tagen atmet die Welt auf,
an freien Tagen atmet die Schöpfung auf.
An freien Tagen atmen die Menschen auf.
An freien Tagen sind wir alle gleich.
An freien Tagen denken wir daran,
dass wir befreit wurden:
Aus der Finsternis.
Aus dem Tohuwabohu.
Aus der Sprachlosigkeit.

Ganz zu Beginn steht ein Segen.
Von hinten, oben und unten begrenzt,
Nach vorn aber offen, zur Zukunft hin.
Ganz zum Schluss liegt wieder ein Segen.
Im Innehalten, ausatmen, ausschalten.
Und siehe, es war sehr gut.

Amen.