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Bis zum äußersten Meer

Predigt zum 8. Sonntag nach Trinitatis (25.7.2021):

Neujahr 2019.
Es ist Winter: Ich stehe am Meer.
Das Wintermeer auf Borkum ist heute rau.
Ein richtiger Sturm ist aufgezogen.
Sandkörner wehen über das Ostland –
sie verwandeln den Strand in eine Wüste.
Schemenhafte Gestalten wandeln hindurch.
Sie stemmen sich gegen den Wind.
Schräg stehen sie gegen den Sturm.
Meter um Meter nähern sie sich dem Meer.
Ihre Konturen verschwinden –
so wie auch alle anderen.
Meer und Himmel fließen ineinander.
Dünen und Sträucher verschwimmen.
Es gibt keine klaren Linien mehr.
Kein Anfang und kein Ende.
Die Sandkörner sind auf meiner Haut,
auf meinen Lippen, auf meinen Händen.
Der Wind nimmt mir den Atem.
Und trotzdem stehe ich am Meer.
Die Nordsee liegt vor mir, tobend.
Ich spüre die Macht der Natur.
Hier, am äußersten Meer.

Hätte ich Flügel des Morgenrots,
flöge ich über die fernsten Meere, auch dort:
Du – Deine Hand, Deine Rechte, die mich festhält. (Ps 139)

Wir haben die Natur gezähmt – so scheint es manchmal.
Doch in diesen Tagen zeigt sich ihre ganze Ambivalenz.
Die Natur ist noch immer gewaltig, manchmal sogar gefährlich.
Die Bilder von der Flutkatastrophe gehen mir nicht aus dem Kopf.
Vor genau vier Jahren gab es auch ein Hochwasser hier in Goslar.
Da wurde der Marktplatz und die Marktkirche von Wasser umspült.
Schon öfter war diese Region von Überflutungen betroffen,
nun sind es Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Bayern.
Ich muss an die Menschen dort denken, an ihre Häuser, ihre Dörfer.
Über Nacht wurde ihre ganze Existenz fortgerissen.
Aus Erftstadt-Blessem erreichten mich Nachrichten:
„Uns geht es gut, nur der Keller ist voll gelaufen.
Mein Mann ist von einer Dienstreise zurückgekommen.
Wir haben gerade kein Strom und sind erst einmal im Auto.
Unsere Tochter hilft den anderen beim Aufräumen.“
Diese Tage gibt es viel zum Aufräumen in den Flutgebieten.
Helferinnen und Helfer aus ganz Deutschland sind angereist.
Auch ehrenamtlich Seelsorgende aus unserer Landeskirche.
Es wurde sehr viel Geld gesammelt und gespendet.
Es gab Spendenläufe, Gemeindekollekten, Hilfsangebote.
Solidarität ist zu spüren, Mitgefühl, Mitmenschlichkeit.
So, wie es im Matthäusvangelium heißt:

Ihr seid das Licht der Welt.
So lasst euer Licht leuchten vor den Leuten,
damit sie eure guten Werke sehen
und euren Vater im Himmel preisen. (Mt 5,13-16*)

Erst die Pandemie, dann das Hochwasser.
Das ist mehr, als manche ertragen können.
Sie fragen, warum Gott das zulässt.
Wie konnte es dazu kommen?
Warum noch mehr Leid?
Es ist finster geworden.
Woher kommt jetzt Hilfe?
Woher kommt Licht?

Riefe ich: „Finsternis, bedeck mich,
Licht, werde zur Nacht“ –
Für Dich besteht die Finsternis nicht.
Für Dich ist die Nacht so licht wie der Tag,
die Finsternis ebenso strahlend wie das Licht. (Ps 139)

Manchmal habe ich darauf keine Antwort.
Und dann stehe ich am äußersten Meer,
ich stehe am Wintermeer auf Borkum.
Ich stelle meine Fragen dem Wind.
Mit Sandkörnern auf meiner Haut
und Salzgeschmack auf den Lippen.
Manchmal möchte ich fast fliehen, vor Gott.
Vor ihrer Allmacht, vor ihrer Stärke.
Vor ihren dunklen Seiten.
Gott ist mir in diesen Tagen unbegreiflich und fern.

Das ist es, was ich nicht begreifen,
nicht denken kann, das ist für mich zu hoch.
Wie dem Hauch Deines Mundes entkommen?
Wohin flüchten vor Deinem Angesicht?
Erklimm ich den Himmel, da bist du,
steig ich ab in die Erde, da find ich dich auch. (Ps 139)

Wie anders sind da die Werke von Ben Willikens.
Auf vielen seiner Bilder sind Räume dargestellt.
Sie sind hell und weit. Ihre Linien sind gerade und klar:
Perfektionistisch, in Grauschattierungen gehalten.
Zeitlos und transzendent, sagen manche.
Sachlich und kühl, sagen andere.
In der Floß-Serie kommt Neues hinzu.
Es sind Werke aus dem Übergang.
Ben Willikens zieht mit seinem Atelier um.
Er fotografiert daher das Atelier mit seinen Bildern.
Es sind Fotografien mitten aus dem Umzug.
Die entstandenen Fotografien übermalt er neu.
Dadurch entstehen neue Räume, neue Bildwelten.
Die dunklen Strukturen des Ateliers treffen auf helle Linien.
Es entsteht ein Bild in Bild, bis in die Unendlichkeit.
Die Kunst selbst wird ambivalent, vielgestaltig.
Sie ist im stetigen Wandel, im Übergang.
Das Gewesene fließt vorbei, im Fluss, im Floß.
Und dadurch wird etwas ins Fließen gebracht.
Und vielleicht ist Gott da, in diesen Neuanfängen.
In diesen Wandlungen und Übergängen.

Du ergründest mein Herz, du durchschaust mich.
Du weißt um mein Gehen und Stehen.
Du kennst meine Gedanken von Ferne,
mein Reisen und Wandern, mein Ruhen.
All meine Wege sind Dir bekannt.

Ben Willikens, Marktkirche Goslar (2021)
Ben Willikens, Raum 701 Floß, Marktkirche Goslar (2021)

 

 

 

 

 

Als ich das Werk „Raum 701 Floß“ zuerst sah,
musste ich an die Weite des Meeres denken.
Ich musste an die Freiheit denken, die vom Meer kommt.
Der dunkle Atelierraum erinnert mich an ein Schiff,
oder an ein schnelles Boot, einen Katamaran.
Wenn man das Boot verlässt, beginnt der Raum.
Und hinter dem Raum: Da liegt das Meer.
Hinter den Räumen ist die Unendlichkeit.
Dort beginnen die Weite und die Freiheit.
Wenn ich das Bild sehe, möchte ich hineingehen –
in diesen Raum und wieder hinaus.
Bis ich am Meer stehe und den Himmel sehe.
Es ist wie ein Pfad in eine andere Welt.
Jeden Tag könnte ich hinaus- und hineingehen.
Hinaus aus meiner Welt, aus der Finsternis,
hinein in diese Weite, hinein in das Licht.
Ich würde dort Gott alle Fragen stellen,
dort am äußersten Meer hinter dem Raum 701.
Selbst die Fragen, die ich noch nicht begreifen kann.
Die kleinen und die ganz großen Fragen.
Die Fragen nach dem „Warum?“.

Was antwortest du mir, Gott?
Was sagst du mir, Gott?
Kannst du mich verstehen?

Jedes Wort, das mir kommt über meine Lippen,
unausgesprochen noch, Du hörst es schon.
Du, Ewige, ergründe mein Herz, erforsch mich,
prüfe meine geheimen Gedanken.
Mein Weg führt doch nicht in die Irre?
Führ mich fort auf dem Weg Deiner Tage. (Ps 139)

Wenn ich am Wintermeer stehe,
an der rauen und stürmischen Nordsee,
dann spüre ich die Macht der Natur.
Sand auf der Haut, Salz auf den Lippen.
Menschen stellen sich gegen den Wind.
Sie trotzen dem Sturm mit ihren Körpern.
Alles zerfließt, Himmel und Erde.
Finster ist es, dunkel, unheimlich, gefährlich.
Ich fühle mich unendlich klein, hier am Meer.
Aber auch unendlich frei – befreit:
in allen Wandlungen und Übergängen.
Hinter dem Meer, da beginnt Gott.
Hinter dem Meer, da beginnt die Ewigkeit.
Hinter dem Meer: Unendlichkeit.

Es ist Gott, die mich geschaffen hat.
Sie hat mich geschaffen und geformt.
Mich, mit allen Zweifeln und Fragen.

Deine Schöpfung bin ich mit Herz und Nieren,
Du hast mich gewebt im Schoß meiner Mutter.
Ich will Dir danken dafür, dass Du mich so herrlich gemacht hast.
Meine Seele und Glieder sind Dir bekannt.
In mir war nichts Deinen Augen verborgen,
als ich geformt wurde tief im Geheimen,
prächtig gewirkt im Schoße der Erde.
Ich war noch ungeboren, Du hattest mich schon gesehn,
all meine Lebenstage standen in Deinem Buch,
bevor auch nur einer durch Dich war geschaffen. (Ps 139)

Neujahr 2019 auf Borkum:
Es ist Nachmittag geworden.
Der Sturm hat sich gelegt.
Die Wellen fluten sanft an.
Sonnenlicht glitzert im Wellenschaum.
Die Menschen gehen spazieren.
Barfuß stehe ich im Meereswasser.
Rosafarbene Wolken am Himmel.
Der Horizont ist ganz klar, ganz gerade,
ganz zeitlos, ganz transzendent und hell.
Ganz weit wie ein Werk von Ben Willikens.
Ein Horizont hinter den Räumen in den Räumen,
dort, wo die Unendlichkeit beginnt, wo Gott beginnt.
Ich fühle mich eins, eins mit der Natur.
Verbunden mit den Menschen um mich herum.
Sie sind Licht der Welt, so wie auch ich.
Sie leuchten wenn sie Handeln,
wenn sie gestalten und verändern,
mitmenschlich, mitfühlend,
die Schöpfung bewahrend.
Auch in der Katastrophe, in der Krise,
anpackend, betend, spendend,
in Erfstadt-Blessem, in Ahrweiler,
in Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Bayern.
Darin: darin ist Gott.
Hinter der Morgenröte.
Bis zum äußersten Meer.

Hinter mir bist Du und mir voraus,
Du legst Deine Hände auf mich. (Ps 139)