Predigt zum 18. Sonntag nach Trinitatis (11.10.2020):
Ein junger Jude kommt zu einem Rabbi und sagt: “Ich möchte gerne zu dir kommen und dein Jünger werden.” Da antwortete der Rabbi: “Gut, das kannst du, aber ich habe eine Bedingung. Du musst mir eine Frage beantworten. “Liebst du Gott?“ Da wurde der Schüler traurig und nachdenklich. Dann sagte er: “Eigentlich, lieben, das kann ich nicht behaupten.” Der Rabbi sagte freundlich: “Gut, wenn du Gott nicht liebst. Hast du Sehnsucht danach, ihn zu lieben?“ Der Schüler überlegte eine Weile und erklärte dann: “Manchmal spüre ich die Sehnsucht danach, ihn zu lieben, recht deutlich, aber meistens habe ich soviel zu tun, dass diese Sehnsucht im Alltag untergeht.“ Da zögerte der Rabbi und sagte dann: “Wenn du die Sehnsucht Gott zu lieben nicht so deutlich verspürst, hast du dann Sehnsucht danach, Sehnsucht zu haben, Gott zu lieben?“ Da hellte sich das Gesicht des Schülers auf, und er sagte: “Genau das habe ich. Ich sehne mich danach, diese Sehnsucht zu haben, Gott zu lieben.” Der Rabbi entgegnete: “Das genügt. Du bist auf dem Weg.“
An diesem Wochenende feiern Jüdinnen und Juden Simchat Thora, die Freude an der Thora, die Freude an Gottes Weisung. An Simchat Thora wird im jüdischen Gottesdienst das letzte Kapitel der Thora vorgelesen. Dafür werden die Thora-Rollen am Freitagabend aus ihrem Schrein geholt. Es gibt eine fröhliche Prozession, von Kindern mit Wimpeln und Kerzen begleitet. Es wird getanzt und gelacht, für die Kinder gibt es Süßigkeiten.
Beim Gottesdienst am Samstagmorgen treten die religionsmündigen Gemeindeglieder nach vorn und lesen die einzelnen Abschnitte vor. Es sind die Kapitel von Moses Tod, nach seiner großen Rede an das Volk. Dort steht: „Und es stand hinfort kein Prophet in Israel auf wie Mose, der Gott erkannt hätte von Angesicht zu Angesicht, mit all den Zeichen und Wundern, mit denen Gott ihn gesandt hatte.“ (Dtn 34,10) Nach diesen letzten Worten werden die allerersten Worte der Thora angeschlossen: „Am Anfang erschuf Gott Himmel und Erde.“ (Gen 1,1)
Die Thora hat kein Ende, sie ist ewig. Als Gottes Wort wird sie wird wieder und wieder gelesen, wieder und wieder studiert. Über viele Jahre und Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg.
Als Jugendliche hatte das Judentum eine große Faszination für mich. Ich las viele Bücher darüber, ich sang jiddische Lieder und hörte Klezmar-Musik. Eine Klassenkameradin von mir entschied sich mit elf Jahren, der jüdischen Religion ihres Vaters anzugehören und zu konvertieren. Fortan aß sie vegetarisch, weil ein koscheres Leben in Deutschland kaum möglich war. Auf Klassenfahrten betete sie drei Mal am Tag und verhüllte dabei ihre Haare mit einem Tuch. Wenn wir einen Obdachlosen trafen, gab sie ihm ihr Taschengeld, ohne auf die Summe zu achten.
Ich war nicht-religiös erzogen und kam so überhaupt das erste Mal mit Religion in Kontakt. Was ist das für ein Gott, der das Leben so bestimmt? Wer kann 613 Gebote erfüllen? Erst später verstand ich, dass das Judentum eine ganze Bandbreite von Frömmigkeit aufweist. Meine Klassenkameradin gehört mittlerweile zu einer liberalen Gemeinde. Ihr Bruder ist orthodox, für ihn besitzt die Familie zwei verschiedene Geschirrsets. Ihre Schwester ist als Erwachsene aus der jüdischen Gemeinde ausgetreten. Und ihr Vater? Der isst schon immer Hummer und Krebse, selbst wenn diese nicht koscher sind.
So wie meine Klassenkameradin langsam in ihre Form des Judentum hineinwuchs, tat ich es in das Christentum. In meiner Jugend, selbst noch im Studium, stellten sich mir damals fortlaufend Fragen. Darf man als Christ eigentlich Schweinefleisch essen? Darf man als Christin Alkohol trinken? Was ist eigentlich Unzucht? Muss man jeden Sonntag zum Gottesdienst gehen? Gelten Gottes 613 Gebote auch für mich?
Einerseits war es verlockend, sich an den Geboten zu orientieren. Sie gaben eine ganz klare Vorgabe, was erlaubt war und was nicht. Sie strukturierten das Leben. Kein Alkohol, keine Drogen, keine Intimität vor der Ehe, kein gleichgeschlechtliches Begehren. Natürlich auch keine Gewalt, kein Streit und kein Lästern. Stattdessen sollte es regelmäßige Gebetszeiten, Bibellesen und Gottesdienstbesuche geben. Eine liebevolle Gemeinschaft mit anderen Gläubigen, die Hingabe an Jesus.
Manchmal – sehr oft sogar – kam es mir unmöglich vor, Gottes ganze Gebote zu halten. Sie wirkten so fern, so fremd. Und ich scheiterte ständig daran. Ich passte einfach nicht hinein. So ganz und gar nicht. Ich fühlte mich, ja – wie eine Schuldige. Erst sehr viel später verstand ich, wie es gemeint war:
“Das Gebot, das ich dir heute gebiete, ist dir nicht zu hoch und nicht zu fern. Es ist nicht im Himmel, dass du sagen müsstest: Wer will für uns in den Himmel fahren und es uns holen, dass wir’s hören und tun? Es ist auch nicht jenseits des Meeres, dass du sagen müsstest: Wer will für uns über das Meer fahren und es uns holen, dass wir’s hören und tun? Denn es ist das Wort ganz nahe bei dir, in deinem Munde und in deinem Herzen, dass du es tust.” (Dtn 30,11-14)
Gottes Wort ist gar nicht weit. Nicht im Himmel. Auch nicht jenseits des Meeres. Ich muss es nicht in der Ferne suchen. Es ist auch gar nicht so schwer zu erfüllen, denn es ist kein unerfüllbarer Gesetzeskatalog.
Gottes Wort wohnt in mir. Es berührt meine Seele, geht durch mich hindurch. Ich lebe es, ich atme es, es schlägt im Takt meines Herzens, in meinem Rhythmus. Gottes Wort baut mich auf, leitet mich, ist mir ein innerer Taktgeber. Wie Martin Luther sagt: „Was Mose geschrieben hat in den Zehn Geboten, das fühlen wir natürlich in unserem Gewissen.“
Gottes Wort kommt mit Freude und Leichtigkeit, mit Tanz und Fest, mit Schokolade und Bonbons. Es ist ganz und gar Liebe. Und die Sehnsucht nach dieser Liebe.
„Adonaj ist für uns Gott, einzig und allein Adonaj ist Gott. So liebe denn Adonaj, Gott für dich, mit Herz und Verstand, mit jedem Atemzug, mit aller Kraft.” (Dtn 6,4)
Diese Sehnsucht nach Gott, diese Sehnsucht nach Liebe, die braucht nicht viel. Sie braucht das Sehnen nach der Sehnsucht, den Beginn der Suche, das Ja zu Gott. Sie braucht das Wiederholen, Jahr um Jahrhundert um Jahrtausend. Vom Anfang bis zum Ende und darüber hinaus. Sie braucht das Erzählen, das Erzählen von Generationen zu Generation, das Erzählen von Gott und seinen Taten. Sie braucht die Freude, die Leichtigkeit und den Tanz.
„Und das genügt. Du bist auf dem Weg.“