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Josef, der Träumer

Predigt zum 4. Sonntag nach Trinitatis (14.7.2019):

Es gibt diese Kinder, die anders sind.
Noch im Bauch spüren es die Mütter manchmal.
Der Bauchbewohner zappelt und tobt, bleibt niemals still.
Und nach der Geburt hört er ein Jahr lang nicht auf zu schreien.
Für alle ist es eine große Belastung.
Für die Eltern, für die Geschwister.
Es gibt überhaupt gar nichts, was hilft.
Die Nerven liegen blank.
Der Haussegen hängt schief.
Und dann ist es plötzlich wieder vorbei.

Es gibt diese Kinder, die anders sind.
Sie weinen viel, sie schlafen schlecht.
Essen wird zu einem großen Problem.
Sie wachsen und wachsen und werden größer.
Sie lärmen und toben herum.
Sie reagieren sensibel auf alles.
Aber manchmal träumen sie auch.
Ihr Blick schweift in die Ferne.
Sie schauen Löcher in die Luft.
Wo sind ihre Gedanken?
Was sehen sie da?
Man sagt dann:
Er ist ein Träumer.
Oder: Sie ist eine Traumtänzerin.

Josef ist so ein Kind.
Er ist das 11. von 12 Kindern.
Er wächst bei seinem Vater Jakob auf.
Seine Mutter Rahel ist leider gestorben,
bei der Geburt des jüngsten Sohnes: Benjamin.
Josef war schon immer anders.
Anstatt die Schafe zu hüten,
oder auf dem Feld zu arbeiten,
wie seine Geschwister,
träumt er einfach so vor sich hin.
Stundenlang kann er das.
Das ärgert natürlich seine Geschwister.
Aber trotzdem – oder gerade deswegen –
liebt sein Vater ihn über alles.
Er schenkt ihm sogar ein besonderes Gewand.
Es ist bunt und bodenlang.
Es ist nicht für das Arbeiten gemacht.
Sondern eher für das Denken und Träumen.
Es ist für jemand ganz besonderes – für Josef eben.
Und das ärgert die Geschwister noch mehr.
Sie hänseln ihn.
Sie machen sich über ihn lustig.
Sie schließen ihn aus.
Er ist anders!
Josef träumt sich weg.
An einen sicheren Ort.
Er träumt, dass er irgendwann eine hohe Stellung haben wird.
Dann werden seine Geschwister ihn nicht mehr ärgern.
Sie werden ihn verehren, ihn anbeten.
Josef ist ehrlich und erzählt von seinem Traum.
Das stachelt die Wut der anderen noch mehr an.
Sie schmieden einen gemeinen Plan.

Kinder, die anders sind, haben es nicht leicht.
Sie werden ausgeschlossen, oftmals gemobbt.
Sie müssen sich behaupten in einer Welt,
die nicht nach ihren Regeln spielt.
Es ist nicht ihre Welt.

Es gibt besondere Orte für Kinder und Jugendliche,
die nicht der Norm entsprechen,
die nicht so funktionieren, wie erhofft.
Integrierte Kindergärten und Schulen.
Auch die Stiftung Neuerkerode schafft solche Orte.
Wo Menschen aufwachsen können.
Mit ihren ganzen Besonderheiten.
Sie können dort arbeiten, sich kreativ entfalten.
Sich verlieben, manchmal weinen.
Aber vor allem: Frei leben.

Nur: Für Josef gab es so einen Ort nicht.
Er kann sich nicht verstecken.
Er will sich auch nicht anpassen.
Er bleibt verträumt, phantasiereich.
Wortgewandt, nachdenklich,
aber eben auch: anders.

Eines Tages haben die Geschwister es Leid.
Als Josef zu ihnen auf das Feld kommt,
überwältigen sie ihn, den Träumer.
Sie werfen ihn in einen leeren Brunnen.
Uneins darüber, was jetzt zu tun ist,
ihn töten, ihn dort lassen, ihn retten?,
verkaufen sie ihn schließlich an eine Karawane.
Die Karawane nimmt ihn mit nach Ägypten.
Dem Vater erzählen die Geschwister von Josefs Tod.

Die Geschwister haben gehandelt.
Der Streit ist eskaliert.
Josef wird ausgeschlossen.
Da, wo Familie hätte zusammenhalten sollen,
hat sie sich gegeneinander gewandt.
Denn manchmal sind es gerade die Menschen,
die sich am nächsten stehen,
die sich am meisten verletzen können.
Andersartigkeit wird zum Problem.

In Ägypten ergeht es Josef erst nicht besser.
Er wird der Diener eines reichen Mannes.
Er wird der Diener von Potifar.
Er wächst dort auf.
Als er erwachsen ist, passiert es:
Potifars Frau verliebt sich in Josef.
Doch als Josef sie abweist,
verdreht sie die Wahrheit.
Sie sagt ihrem Mann, dass er sie verführen wollte.
Josef wird erneut ausgeschlossen.
Er kommt in ein Gefängnis.
Doch er weiß sich zu helfen.
Er fängt an, die Träume der anderen zu deuten.
Im Gefängnis spürt er:
Seine Andersartigkeit ist ein Geschenk.
Gott hat ihn so gemacht.
Er hat ihm eine Gabe geschenkt.
Die Gabe des Träumens.
Die Gabe der Wörter.
Die Gabe der Phantasie.
Die Gabe der Weisheit.

Das spricht sich herum.
Und eines Tages kommt sogar der Pharao.
Er lässt sich von Josef die Träume deuten.
Josef denkt und deutet.
Und weiß: Es kommt eine Hungersnot.
Der Pharao erkennt Josefs Weisheit.
Er sagt: „Der Geist Gottes wohnt in ihm!“

Er holt Josef aus dem Gefängnis.
Er macht ihn zu einem Minister.
Und alles, was Josef sagt, wird wahr.
Nach einigen Jahren kommt eine Hungersnot.
Aber Josef zum Dank wurde vorgesorgt.
Getreide wurde eingelagert,
niemand muss hungern!
Ägypten lebt im Überfluss.
Während Menschen in anderen Ländern leiden.

Das klingt fast zu schön, um wahr zu sein.
Aus dem Außenseiter wird ein angesehener Mann.
Aus dem sensiblen Träumer ein einflussreicher Politiker.
Anderssein wird zu einem Geschenk, einer Gabe.
Er brauchte nur, jemand, der die Gabe erkennt.
Und Gott, der Josef in allem unterstützt.

Inklusion kann gelingen.
Das ist kein bloßer Traum.
Kinder und Jugendliche müssen nicht leiden,
nur, weil sie anders, weil sie besonders sind.
Sie müssen nicht ausgeschlossen werden,
aus der Gesellschaft, verdrängt an den Rand.
Das braucht einfach nur Menschen,
die Andersartigkeit als Chance erkennen.
Die gezielt fördern, begleiten, helfen.
Die genau hinschauen, was Kinder brauchen.
Und einfach nur die richtigen Bedingungen schaffen.

„Gottes Welt trägt viele Farben.“
So heißt eine Initiative der ev. Jugend in Braunschweig.
Es geht darum, Diversität sichtbar zu machen.
Andersartigkeit zur Normalität zu erklären.
„Gottes Welt trägt viele Farben.“

Josef hat seine Farben.
Als Minister trägt er wieder ein buntes Gewand.
Er heiratet sogar eine ägyptische Frau, Aseneth.
Das wird nur in einem einzelnen Bibelvers erwähnt.
Jüdische Gelehrte in Alexandria fanden das so interessant,
dass sie sogar eine eigene Geschichte erdachten.
Es ist sozusagen eine Fortsetzung der biblischen Geschichte.
In der Geschichte geht es um die Liebe von Josef und Aseneth.
Durch Josef bekehrt sich die Heidin Aseneth zu Gott.
Und gemeinsam haben sie zwei Söhne.
Es kommt erneut zum Geschwisterstreit,
doch schließlich versöhnen sie sich miteinander.

Auch in der Bibel endet die Geschichte mit der Versöhnung.
Durch die Hungersnot kommen Josefs Geschwister nach Ägypten.
Sie bitten für ihr Volk um Hilfe, um Nahrung.
Erst erkennen die Geschwister Josef nicht.
Und Josef lässt sie auflaufen.
Er denkt sich selbst kleine Gemeinheiten aus.
So ganz hat er ihnen noch nicht verziehen.
Doch am Ende gibt er sich zu erkennen.

Josef reist sogar nach Israel.
So trifft er seinen Vater Jakob wieder,
kurz vor dessen Tod gibt es einen letzten Abschied.
Es ist eine Versöhnung im letzten Moment.
Die Familie ist wieder vereint.
Und Josef vergibt seinen Brüdern:
Ihr hattet Böses im Sinn,
Gott aber hatte Gutes im Sinn,
um sein Ziel zu erreichen:
Er wollte viel Volk am Leben erhalten.
Habt keine Angst!
Ich will für euch sorgen!“ (Gen 50,20-21)
Am Ende steht eine große Geste.
Josef vergibt den Täter*innen.
Er vergibt ihnen das Unrecht.

Das ist nicht etwas, was sich erzwingen lässt.
Und schon gar nicht überall funktioniert.
Manchmal wiegt Schuld so schwer,
dass nur Gott sie vergeben kann.

Aber: Josef rafft sich auf.
Er kann es:
Er vergibt und verzeiht.
Er kann das Gute in seinem Leben erkennen.
Er sieht, wie Gott durch ihn gehandelt hat.
Er versöhnt sich mit seiner Geschichte.
Auch mit den dunklen Seiten.

Es gibt diese Kinder, die anders sind.
Vielleicht sind sie laut und wild,
vielleicht sensibel und verträumt.
Sie brauchen nicht viel.
Liebe und Achtsamkeit.
Förderung und Begleitung.
Inklusion und Gott an ihrer Seite.
Dann wird Anderssein zur Gabe.
Zu einem Geschenk.

Gottes Welt trägt viele Farben.
Und so auch wir.