Lese-Predigt zum Sonntag Exaudi (02.06.2019):
In seiner Autobiographie schreibt der Autor Thomas Melle:
„Die ganze Welt war weg.
Es wurde alles weggezerrt.
Ein Erdbeben hätte nicht zerstörerischer sein können.
Nur war dieses Beben anders:
Es ereignete sich ausschließlich in mir, und die Zerstörung,
so allumfassend sie um mich griff, geschah im Stillen.
Nichts blieb, wie es vorher gewesen war,
und doch schien alles, rein äußerlich, gleich.
Die Sprache hatte zwar keine Anker mehr,
aber die Menschen redeten dennoch weiter, wie normal,
ganz fremd wirkten sie dabei, völlig fern.
Ich hätte diese neue Sprache erst lernen müssen,
aber wie denn, hatte ich doch keine Grammatik,
kein Lexikon zur Verfügung, war auf mich selbst,
auf mein komisches-Ich zurückgeworfen,
das allerdings gerade in Auflösung begriffen war.
Kein Satz stimmte mehr.“
Samuel.
Eine Stimme ruft seinen Namen.
Der Name erklingt in der Nacht.
Wie in einem angenehmen Traum.
Die Stimme klingt so vertraut, so warm.
Fast wie die Stimme seiner Mutter.
Es ist nur ein liebevolles Flüstern.
Ein Windhauch, eigentlich gar nicht zu hören.
Aber doch da.
Samuel.
Das ist sein Name.
Das ist der Name, dem ihm seine Mutter gab.
Damals, als er von ihr geboren wurde.
Er war das Wunder, mit dem niemand rechnete.
Der Name, der ihn schon sein ganzes Leben begleitete.
Auch, als er mit drei Jahren in den Tempel gebracht wurde.
Um Gott, zu dienen, um ihn anzubeten, jeden Tag.
Der Name, mit dem er heute noch gerufen wird.
Von Eli und seinen Söhnen. (1. Sam 3)
Samuel.
Hier bin ich.
Ich bin dein.
“Die schizophrenen Störungen sind im Allgemeinen durch grundlegende und charakteristische Störungen von Denken und Wahrnehmung sowie inadäquate oder verflachte Affekte gekenn-zeichnet. Die Bewusstseinsklarheit und intellektuellen Fähigkeiten sind in der Regel nicht beeinträchtigt, obwohl sich im Laufe der Zeit gewisse kognitive Defizite entwickeln können.” (ICD-10 / F.20)
Thomas Melle:
„Wie soll man Menschen auch erklären,
was einem selbst nicht begreiflich ist?
Wie klarmachen, dass zwar ich es war,
der diese Dinge tat, dass ich es aber auch nicht wahr?
Das ist der Spalt, wenn nicht Abgrund in mir,
mit dem ich leben muss,
den ich manchmal zuzuschütten versuche,
der immer da, der nicht mehr aufzufüllen ist.“
Samuel.
Hier bin ich.
Ich bin dein.
Rede du. Ich höre.
Gott spricht zu ihm.
Zu ihm: Samuel.
Wie ein Windhauch.
Wie ein Flüstern.
Wie seine Mutter.
Licht breitet sich in ihm aus.
Er fühlt sich geborgen, sicher.
Sein Ich löst sich in Gott auf.
Es wird eins mit den Wörtern.
Und Gott redet.
Und Samuel hört zu.
Nur: Wie soll er das erklären?
Wie das Unfassbare in eigene Worte fassen?
Die Begegnung mit Gott.
Sie verändert Samuel.
Sie verändert ihn grundlegend.
Es gibt keine Worte dafür.
Der Windhauch musiziert in seiner Seele.
Der Windhauch wird zu seiner Lebensmelodie.
Und Samuel wird zu einem Propheten.
Die Worte Gottes fließen durch ihn hindurch.
Durch ihn zu den Menschen. (1. Sam 3)
Samuel.
Rede du. Ich höre.
“Die wichtigsten psychopathologischen Phänomene der schizophrenen Störungen sind Gedankenlautwerden, Gedankeneingebung oder Gedankenentzug, Gedankenausbreitung, Wahn-wahrnehmung, Kontrollwahn, Beeinflussungswahn oder das Gefühl des Gemachten, Stimmen, die in der dritten Person den Patienten kommentieren oder über ihn sprechen, Denkstörungen und Negativsymptome.” (ICD-10 / F.20)
In der Bibel spricht Gott nachts mit Samuel.
Samuel hört Gottes Stimme und antwortet.
Das klingt in der Bibel ganz leicht.
Wie ein Gespräch zwischen zwei Freunden.
Wie ein nächtlicher Smalltalk mit Gott.
Heute ist die Welt eine andere.
Wer nächtliche Stimmen hört,
sollte sich über seine Gesundheit Gedanken machen.
Es kommen schnell Fragen auf.
Nach Überlastungen, seelischen Störungen.
So oder so: Stimmen hören gilt nicht als normal.
Vielleicht ist das der Grund,
warum nur noch so wenige Menschen davon erzählen,
dass Gott zu ihnen spricht, dass sie sein Wort hören.
Prophetinnen und Propheten trifft man eher selten an.
Dabei wäre es doch schön:
Man könnte Gott einfach alles fragen.
Und vielleicht antwortet Gott auf unsere Fragen.
Aber wir hören seine Worte nicht.
Rede du. Ich höre.
Ich glaube:
Auf Gott hören.
Das braucht Mut.
Vielleicht ist es da ganz gleich,
was als „normal“ gilt, als „gesund“.
Vielleicht ist Gott immer auch das ganz Andere.
Der Entrückende, die Auflösende.
Rede du. Ich höre.
Mit Gott reden, das braucht:
Die Stille im Herzen.
Die Bereitschaft, sich ganz einzulassen.
Die Bereitschaft, ganz und gar zuzuhören.
Denn Gottes Wort ist:
Wie ein Windhauch.
Wie ein Flüstern.
Wie eine Mutter.
Rede du. Ich höre.
Gott spricht.
Er hat uns bei unseren Namen gerufen.
Er spricht uns unsere Namen in unser Herz.
Samuel, Rebekka, Lasse, Antonia, Finn, Daniel, Aaron, Miriam.
Und wenn wir ganz genau zuhören:
Spüren wir wortlos seine Liebe in uns.
Wir spüren das Licht, das uns wärmt.
Die Antworten auf unsere Fragen.
Der Windhauch musiziert in unserer Seele.
Er wird zu unserer Lebensmelodie.
Hier bin ich.
Ich bin dein.
Rede du. Ich höre.