Poetry-Slam in Braunschweig (9.3.2018):
Es war einmal…
So fangen Märchen an,
alle Märchen.
Es war einmal…
Da ist dieses Mädchen.
Sie lebt in großer Armut.
In großer Bedrängnis.
Sie ist bildhübsch.
Goldblonde Haare, weiche Locken.
Himmelblaue Augen, lange Wimpern.
Schönheit, selbst unter einer Schicht aus Schmutz.
Sie ist der Inbegriff von Weiblichkeit.
Aber unschuldig muss sie sein.
Und intelligent.
Nicht zu intelligent.
Nur eben gerade intelligent genug.
Und hilfsbereit!
Sie ist immer für andere da.
Sie fegt die Fliesen,
schläft im Staub,
liest die Linsen.
Nur eines fehlt ihr: Die Liebe.
Es war einmal…
Da ist dieser Prinz.
Er ist schmuck und schön.
Breite Schultern, brünette Haare, Typ Bachelor.
Er ist gut im Regieren und Residieren.
Im Richtig stellen, im Richtig liegen.
Im Rasieren, Ratifizieren, Ramponieren, Radikalisieren.
Und im Rammeln.
Was richtige Männer halt so können.
Er interessiert sich für keine.
Nur für die eine. Für sie.
Er hat sie auf einem Ball gesehen.
Goldblond und Himmelblau.
Feenglanz.
Er würde alles für sie tun.
Er läuft ihr hinterher.
Bringt ihr den Schuh.
Es war einmal.
Da ist dieses Mädchen.
Da ist dieser Prinz.
Sie finden sich.
Sie lieben sich.
Sie leben miteinander.
Glücklich bis ans Lebensende.
Happy End.
So enden nicht nur Märchen.
Auch Bücher und Filme.
Selbst die Thai-Massage.
Der Geschäftsmann verliebt sich in die Prostituierte.
Der Vampir küsst das Mädchen, glitzernd im Sonnenlicht.
Der Unternehmer braucht keine fünfzig Schattierungen mehr.
Nur eine: Sie
Sie versteht ihn.
Sie verzaubert ihn.
Sie verändert ihn.
Glücklich bis ans Lebensende.
Happy End.
Nur nicht:
In der Realität.
Ein Paar:
Frau und Mann.
Sie sind nicht verheiratet,
aber sie leben zusammen.
Irgendwo in Braunschweig.
Sie kennen sich gut.
Sie kennen sich schon lang.
Auch sie hatten ein „Es war einmal“.
Sie haben sich bei einer Wohnungsbesichtigung kennen gelernt.
Als die Wohnungen in Braunschweig noch bezahlbar waren.
Sie fanden sich sympathisch.
Sie tranken miteinander einen Kaffee.
Und aus dem Kaffee wurde ein Cocktail.
Und aus dem Cocktail wurde ein Frühstücksei.
Und aus dem Frühstücksei wurde ein Wir.
Und aus dem Wir eine Wohnung.
Glücklich. Ein Leben bis ans Ende.
Auftritt Sie:
Irgendwann hat sie aufgehört kurze Kleider zu tragen.
Lieber sitzt sie mit ihrer Jogginghose am Frühstückstisch.
Ihre Haare sind lose zusammen gebunden.
Ihre Wimperntusche ist verschmiert,
hinterlässt schwarze Spuren auf der Haut.
Unter all dem Alltag ist auch sie:
schön, märchenschön.
Aber sie hat keine Fee.
Kein Gold und kein Glitzer.
Keinen gläsernen Schuh.
Zum Kaffee raucht sie ihre erste Zigarette.
Früher hat sie ihm noch Frühstück gemacht.
Pfannkuchen mit Ahornsirup.
Nun gibt es kalten Rauch am Morgen.
Auftritt Er:
Er sieht nicht aus wie Prinz Charming,
auch nicht wie der Bachelor.
Er hat auch nicht soviel Geld.
Das meiste verdient sie.
Er braucht ihr keine Schuhe zu bringen.
Sie hat mehrere Regalbretter voll.
Er ist nicht gut im Regieren und Reparieren,
dafür im Richtig stellen und Richtig liegen.
Er isst gerne, er isst viel,
vor sich her schiebt er einen Bauch.
Er hat schüttere Haare,
einen Dreitagebart.
Früher war er noch im Fitnessstudio,
Früher war aber auch mehr Lametta.
Sie sitzen am Frühstückstisch.
Einander gegenüber.
Manchmal reden sie,
sie reden aneinander vorbei.
Wer hat den Geschirrspüler nicht ausgeräumt.
Wer hat schon wieder Socken liegen lassen.
Wer kam schon wieder viel zu spät nach Hause.
Angetrunken, lallend.
Wer roch dabei nach fremden Parfüm.
Frauenparfüm, Geruchsnote Lavendel.
Überraschung: Es war nicht er.
Happy End.
– CUT –
Wenn du mich fragst:
Ich brauche kein „Es war einmal“.
Ich brauche kein Märchen,
keine Romanze.
Keine Prinzessin mit blondem Haar.
Kein Prinz mit breiten Schultern.
Keine Fee, kein Schuh,
kein Gold, kein Glitzer.
Ich muss auch nicht gerettet werden.
Von niemanden,
auch nicht von dir.
Ich brauche kein Happy End.
Kein: Glücklich bis ans Lebensende.
Aber ich brauche:
Liebe im Leben.
Glück im Alltag.
Immer wieder,
immer anders.
Denn: Ich liebe dich!
Am Morgen im Bett.
Du bist verschlafen.
Zerrupft und zerzaust.
Ungeschminkt und ungewaschen.
Ungeputzte Zähne.
Doch ich spüre deine Wärme, deinen Körper.
Du bist mir heilig.
Ich liebe dich!
In Jogginghosen sitzt du vor mir.
Mit Kaffee in der Hand.
Mit dem Geruch von kaltem Rauch.
Mit losem Haar, Spuren der Nacht.
Ohne Gold, ohne Glitzer.
Dafür mit Lavendel.
Ich liebe dich!
Du streitest mit mir.
Über den Geschirrspüler.
Über verlorene Socken.
Über zu viel oder zu wenig Zeit.
Über das zu spät nach Hause kommen.
Ich kenne deine Zornesflecken,
deine bebenden Nasenflügel.
Und ich liebe dich dafür.
Ich liebe dein müdes Lächeln.
Nach einem langen Arbeitstag.
Du willst nicht mehr reden.
Auch das ist ok.
Ich liebe deine fünf Kilo zu viel,
deine Leidenschaft für Pizza und Bier.
Ich liebe deinen Tanzstil.
Selbst wenn du mit anderen tanzt.
Hauptsache, es macht dich glücklich.
So wie du mich.
Ich weiß:
Es ist nicht immer leicht, mich zu lieben.
Mit meinen Bedürfnissen,
mit meiner Zerrissenheit
und mit meiner Angst.
Es ist nicht immer leicht, mich zu lieben.
Aber du machst es mir leicht, dich zu lieben.
Und vielleicht sind wir nicht glücklich bis ans Lebensende.
Aber wir sind es jetzt, in diesem Augenblick.