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ICE-Love

Poetry-Slam in Braunschweig (23.9.2016):

Fernbeziehung – das ist nun aber wirklich die idealste aller Beziehungsformen. Die einen erleben, die anderen erhoffen sie. Freiheit kombiniert mit Nähe. Partnerschaft mit Abenteuer. Liebe mit lustvoller Herausforderung.
In der Woche ein „Ich“, am Wochenende ein „Wir“. In der Woche Zeit für mich, am Wochenende Zeit für uns. Das Schwierige allein durchstehen, das Schöne miteinander.
Und kein Streit, kein „Hast du deine pinken Socken etwa zusammen mit meinem weißen T-Shirt gewaschen?“, kein: „Warum gehst du denn schon wieder laufen, warst du nicht erst gestern?“ oder: „Musst du deinen Text jetzt wirklich mitten in der Nacht schreiben?“. Meine Wohnung, meine Ordnung. Ich entscheide, ob ich Mandelmilch im Kühlschrank habe, in welche Richtung das Toilettenpapier hängt und ob ich zu Game of Thrones oder House of Cards einschlafe. Und wenn ich Lust habe, den ganzen Tag bei Spotify „Herbstgefühle“ zu hören, dann mache ich das einfach. Weil Melancholie das neue Schwarz ist.
Überhaupt gleicht das ganze Fernbeziehungs-Leben einer Soap Opera. Woche für Woche das Kommen und Gehen am Bahnhof. Am Freitag überschwängliche Freude, am Sonntag tränenreicher Abschied. Fernbeziehung lässt einen immer hungrig zurück. Pendler-Herzschmerz. ICE-Love.
Die Jahre vergehen, und immer ist alles rosarot und „wir sind ja so verliebt“. Und weil es ja so schön ist und die Freiheit so grenzenlos habe ich fünf Jahre meines Lebens ferngeliebt. Während die Beziehungen kommen und gehen, Woche für Woche, bleibt jedoch am Ende nur die eine Liebe. Meine Liebe zur Deutschen Bahn.

Liebe Deutsche Bahn, du meine große, meine einzige Liebe. Wir haben schon so viele Höhen und Tiefen miteinander gemeistert. So manchen heißen Sommer und so manchen kalten Winter. Ja, unsere Liebe stand schon vor so großen Belastungs-proben, weißt du noch die Hitzeperiode im letzten Jahr?
Es kommt mir so vor, als wärst du schon mein ganzes Leben an meiner Seite. Gäbe es für unsere Liebe eine Zahl, dann wäre es die 4385. 4385, das ist unser aktueller BahnBonus-Punktestand. Andere haben Jahrestage, wir haben einen stetig wachsenden Punktestand. Im letzten Jahr schicktest du mir sogar, schön verpackt, ein ganz besonderes Geschenk. Die Bahncard-Comfort. Unser Verlobungsring.

Seitdem sitze ich ganz komfortabel in deinen weichen Sesseln, in denen für: „Bahn-Comfort-Kunden“. Manchmal muss ich dann aber doch auf den Fußboden ausweichen, wenn wieder zu viele Berufspendler unterwegs sind, aber das nehme ich für unsere Liebe gern in Kauf.
Nun warte ich sehnsüchtig auf den nächsten Schritt: Die Bahncard 100, dein Hochzeitsgeschenk. Ach Bahn, wir haben doch schon so viele Punkte gesammelt, meinst du nicht es ist langsam an der Zeit? Ich möchte nicht erst die Poetry-Slam-Meisterschaft gewinnen müssen, damit sich mein lang gehegter Traum erfüllt.
Meine liebe Bahn, habe ich nicht schon genug in unsere Beziehung investiert? Wie oft stand ich allein am Bahnhof und habe auf dich – ja, auf dich! – gewartet. Ich erinnere mich als sei es gestern, du schlugst mir eine besonders romantische Reise vor. Und so stand ich bei Minusgraden nachts um 2 im Frankfurt am Main auf dem Bahnhof. Kein Geschäft war geöffnet, deine DB-Lounge mir versperrt. Aber das Warten hat sich gelohnt, pünktlich um 4 holtest du mich ab. Noch romantischer war unsere Reise nach Berlin. Orkanböen, Oberleitungsschaden – Begründungen hast du immer parat – und so strandeten wir mitten in einer Winternacht am Leipziger Bahnhof. Zum Glück fand sich jemand, der uns Obdach bot. Und nach ziemlich viel Gin Tonic und wer weiß, was noch für Drogen, schliefen wir glücklich zu Dritt in einem Bett.
Ach Bahn, du bist doch immer wieder für Überraschungen gut. Du nennst nicht nur einen ICE passend zum Reformationsjubiläum „Martin Luther“ von Margot Käß-mann höchstpersönlich eingesegnet! Nein, du wechselst auch gern mal spontan deinen Schlafwagen aus, denn von Braunschweig nach Zürich ist die Reise mit sechs Personen in einem veralteten Abteil doch so viel lustiger.
Oder was war das neulich, als dein Zug auf einem falschen Gleis einfuhr, ich dadurch den Anschlusszug verpasste und meine achtstündige Fahrt um zwei weitere Stunden verlängern durfte? Gern animierst du mich auch zum Sport, wenn ich in drei Minuten an einem Kopfbahnhof von Gleis 2 auf Gleis 13 wechseln darf. Aber deine Pünktlichkeit ist in wirklich 95% der Fälle absolut ausgezeichnet. Vor allem bist du dann pünktlich, wenn an der Jasperallee mal wieder für 30 Minuten kein einziger Bus hält und ich einfach nicht zu dir gelangen kann. Aber das ist eine andere, eine noch viel kompliziertere Liebesgeschichte.
Meine liebe deutsche Bahn, ich danke dir, dass du mich in den vielen Jahren meiner Fernbeziehungen so zuverlässig begleitest hast. Überfüllte Züge, überteuerte Preise und schlechten Kaffee nehme ich gern in Kauf. Ich werde dich lieben und ehren, ich werde zu dir stehen, in guten wie in schlechten Zeiten, ich werde dir treu bleiben, bis dass der BER uns scheidet. „Thank you for travelling with Deutsche Bahn“